Die ständige Angst vor dem Verschwinden (F.A.Z.Kiosk vom 20.8.2018)

MONTAG, 20. AUGUST 2018
Die ständige Angst vor dem Verschwinden

Weil eine Studentin an den Protesten in Nicaragua teilnimmt, wird sie mit dem Tode bedroht – ihre Rettung ist ein Flug nach Deutschland/Von Marlene Grunert

LÜNEBURG, im August. Als Paramilitärs ihr mit dem Tode drohten, entschied sich Maria Martinez zur Flucht. Vorübergehend wollte sie Nicaragua verlassen. Sie packte einen halben Koffer und flog von Managua nach Norddeutschland. In der Elbtalaue kam sie bei einer Freundin ihres Vaters unter. Zwei Monate ist das nun her, und eine Rückkehr in die Heimat wird immer unwahrscheinlicher. Martinez, die eigentlich anders heißt, läuft durch die Lüneburger Altstadt. Touristen ziehen an ihr vorbei. Im Hintergrund schlagen Kirchenglocken, an den Backsteinfassaden blühen die Stockrosen.

Nicaragua ist seit Monaten nicht wiederzuerkennen. Das kleine Land zwischen Honduras und Costa Rica galt bis vor kurzem als sicherste Region Zentralamerikas. Doch seit April tobt ein Konflikt zwischen der Regierung von Präsident Daniel Ortega und ihren Gegnern. Demonstrationen werden brutal niedergeschlagen, und paramilitärische Gruppen kontrollieren das Land. Laut Angaben der parlamentarischen Wahrheitskommission wurden seit Mitte April 265 Menschen getötet, Menschenrechtsorganisationen gehen von bis zu 450 Toten aus. Die meisten Opfer sind Studenten. Sie fordern den Rücktritt Ortegas und eine demokratische Zukunft für Nicaragua.

„Die Wut auf Ortega war schon lange groß“, sagt Martinez. Sie ist zierlich und trägt eine feste Zahnspange. Bis vor kurzem studierte die Achtzehnjährige Medizin. Nur wegen Ortega sei Nicaragua heute das zweitärmste Land Lateinamerikas. Nicht einmal die Feuerwehr funktioniere noch. Martinez spielt auf die Waldbrände an, die Anfang April große Teile des Naturschutzgebietes Indio Maíz zerstörten. Unterstützung aus Costa Rica lehnte Ortega ab. Seine Kritiker unterstellen ihm, er habe mit den freiwerdenden Flächen Geschäfte machen wollen. Erst nach neun Tagen bekam die nicaraguanische Feuerwehr die Brände mit Hilfe Mexikos in den Griff. Von all dem ungerührt, ließ Ortega sich als Held feiern. „Was dann passierte, brachte das Fass zum Überlaufen“, sagt Martinez.

Ortega beschloss eine Rentenkürzung, ohne das Parlament an der Entscheidung zu beteiligen. Es heißt, der Präsident habe dem Haushalt Geld verschaffen wollen, das sein Clan zuvor verprasst hatte. Seine Frau Rosario Murillo hat Ortega zur Vizepräsidentin gemacht, sieben Kinder des Paares besetzen wichtige Positionen in Politik, Medien und Wirtschaft. Vetternwirtschaft und Korruption bestimmen das Regierungsgeschäft. Längst hat sich die Mehrheit der Nicaraguaner vom einstigen Revolutionsführer abgewandt.

Am 19. April eskalierte in Managua dann die Gewalt. 30 bis 60 Demonstranten kamen ums Leben, vor allem Studenten. Das Datum gab der Protestbewegung ihren Namen. Martinez saß an diesem Tag in einer Prüfung und durfte die Universität nicht verlassen. Sie, die zuvor nie an einer Demonstration teilgenommen hatte, war plötzlich politisiert. Wenige Tage später stürmten Spezialeinheiten ihre Fakultät, und Martinez beobachtete, wie Scharfschützen auf die vorbeiziehenden Demonstranten zielten. Zusammen mit einigen Kommilitonen schloss sie sich den Protesten an. Die Hauptstraße unterhalb des Campus war gesperrt, auf beiden Seiten standen schwerbewaffnete Polizisten. Martinez lief mit ihren Kommilitonen zwischen ihnen hindurch. Umringt von den Spezialeinheiten harrten sie in der Straßenmitte aus, in den Händen blauweiße Nicaragua-Flaggen. „Unser Protest hat keine politische Farbe“, sagt Martinez. „Alles, was wir fordern, sind Demokratie und Menschenrechte.“ Sie spricht mit ruhiger Stimme.

Die Bilder des friedlichen Protests verbreiteten sich, und Martinez wurde zu einer öffentlichen Person. Nachdem sie sich von der Demonstration zurückgezogen hatte, habe sie am ganzen Körper gezittert, sagt sie. Nicht aus Furcht vor der Regierung, sondern aus Angst, exmatrikuliert zu werden. Die junge Frau stand kurz davor, das zweite Studienjahr abzuschließen. Das selbständige Leben hatte für sie gerade begonnen.

Nachdem in Managua die Universitäten geschlossen worden waren, fuhr Martinez zu ihrem Vater – einem ehemaligen Anhänger Ortegas. Ihr Onkel kam in der sandinistischen Revolution ums Leben, nach ihm sind in Nicaragua Straßen benannt. Obwohl ihr Vater den Rücktritt Ortegas ebenso fordert wie seine Tochter, verbot er ihr, an den Protesten teilzunehmen. Zu groß schien ihm die Gefahr für Angehörige der „Verräter“. Schon lange sind sie Repressionen ausgesetzt. Seinen Beruf kann Martinez’ Vater mittlerweile nicht mehr ausüben. Was er gearbeitet hat, möchte Martinez nicht sagen. Lieber vermeidet sie jede öffentliche Beschreibung. Seitdem Ortega seine Anhänger verloren hat, bleiben ihm zum Machterhalt nur Mittel, deren sich einst sein Feind bediente.

Ende der siebziger Jahre hatte der Diktator Anastasio Somoza mit seinem Machtmissbrauch gewaltsame Auseinandersetzungen ausgelöst, die in einen Bürgerkrieg mündeten. Am 17. Juli 1979 floh Somoza nach Florida, und die Guerrilleros zogen unter Ortegas Führung in Managua ein. Der begann eine Bildungskampagne, baute das Gesundheitssystem aus, führte Frauenrechte ein und wurde zum Idol einer ganzen Generation. Doch schon bald nach ihrer Machtübernahme begannen die ehemaligen Revolutionäre, sich bei der Neuordnung des Landes zu bereichern.

Als die Vereinigten Staaten unter Ronald Reagan in den achtziger Jahren versuchten, die sandinistische Regierung zu stürzen, ganze Landstriche verminen ließen und die sogenannten Contras finanziell und militärisch unterstützten, erreichte die linke Solidarität weltweit ihren Höhepunkt. Nachdem die revolutionären Stimmungen in Europa abgeflaut waren, richteten sich die Sehnsüchte auf Nicaragua. Zum ersten Mal schien eine sozialistische Revolution zudem in Demokratie zu münden. Hunderte zogen aus Westeuropa in das kleine zentralamerikanische Land, um ihren theoretischen Kampf gegen den Imperialismus Praxis werden zu lassen.

Im Jahr 1990 wurde Ortega abgewählt, 2007 kehrte er zurück. Schon damals war er für viele nicht mehr der Held von einst. Enge Bande knüpfte er nun vor allem in die Wirtschaft, lange galten Unternehmer als seine letzten Verbündeten. Selbst sie haben sich inzwischen mehrheitlich abgewandt. Seine ehemaligen Anhänger halten Ortega heute für ebenso autokratisch wie einst Somoza. Als Sandinisten wollen sie ihn nicht mehr bezeichnen. Spricht man Maria Martinez darauf an, dass ihr Vater für die Sandinisten gekämpft hat, hebt sie den Finger und sagt: „Nein, er hat für die Revolution gekämpft.“

Trotz des väterlichen Verbots beteiligte sie sich weiter an den Protesten. Martinez erlebte, wie neben ihr ein Student nach einem Kopfschuss zu Boden ging. Ihr Cousin starb bei den Protesten. „Diese Regierung achtet nicht einmal Menschenleben“, sagt sie. „Ich war davon schockiert, aber auch stolz, dabei zu sein.“ Mit anderen Medizinstudenten versorgte sie Verletzte, nachdem Ortega Ärzten verboten hatte, Demonstranten zu behandeln. Auf ihrem Handy zeigt sie, wie sie Tische zu Betten umfunktionierten. Auch an Straßensperren beteiligte sie sich. Bis heute blockieren Demonstranten damit wichtige Verkehrswege im ganzen Land. Nur Alte und Kranke werden durchgelassen. Viele Menschen gehen seit Wochen nicht mehr zur Arbeit. Für die nicaraguanische Wirtschaft, die infolge der Krise in Venezuela ohnehin geschwächt war, erwarten Ökonomen dieses Jahr ein negatives Wachstum.

Morgens und abends musste Martinez unweit ihres Elternhauses einen Kontrollpunkt der paramilitärischen Sandinisten passieren. Die fotografierten die Tochter des ehemaligen Anhängers und begannen, ihr zu drohen. Martinez stehe auf einer Todesliste, man werde sie verschwinden lassen. Hunderte gelten in Nicaragua schon jetzt als vermisst. Mehrfach verfolgten Paramilitärs sie auf Motorrädern. Erst jetzt, sagt sie, realisiere sie langsam, welcher Gefahr sie sich ausgesetzt habe. Als sich die Drohungen schließlich auch gegen die Familie richteten, buchte ihr Vater einen Flug nach Deutschland. „Nicht einmal eine Winterjacke habe ich eingepackt“, sagt Martinez, die davon ausging, bald zurückzukommen. Stündlich steht sie nun in Kontakt zu ihrer Familie. Unter Tränen berichtet sie von Schuldgefühlen, ihre Verwandten erst in Gefahr gebracht und dann verlassen zu haben. „Ich dachte damals, ich hätte nichts zu verlieren, weil ich keine Kinder habe.“ Heute sagt sie: „Ich habe alles verloren.“

700 Menschen sollen seit April verhaftet worden sein, unter ihnen Schwangere und Minderjährige. Von Freunden hört Martinez, dass ihnen die Pässe abgenommen wurden. Ausreisen können sie nur noch auf illegalem Wege. 20000 Nicaraguaner sollen sich schon nach Costa Rica abgesetzt haben. Vorgezogene Wahlen, wie die Opposition sie fordert, lehnt Ortega bisher ab. Ein Dialog, zu dem die Kirche aufgerufen hatte, ist gescheitert. Selbst Priester, die den Demonstranten Schutz gewähren, werden bedroht und ihre Kirchen beschossen. Im Ortega-Clan scheinen sich derweil erste Gräben zu bilden. Humberto Ortega, der Bruder des Präsidenten, forderte von ihm ein Ende der Gewalt. Und auch der internationale Druck nimmt zu. Ende Juli drohte das Weiße Haus eine Reihe von Sanktionen an. Sie würden Ortegas Dunstkreis zwar finanziell treffen, doch eine Einmischung Amerikas dürfte in Nicaragua zwiespältige Reaktionen hervorrufen.

Maria Martinez wird in Deutschland Asyl beantragen. Dass sie in Europa gelandet ist, will sie als Chance begreifen.